„Um auf dieser Insel leben und überleben zu können, muss man lernen ‚Ja und Amen‘ zu sagen, während das Herz immer ein großes Herz bleibt“.
Kuba. Santiago de Cuba. Eine Straße, ein Haus, eine Terrasse. Ein Gast, der erzählt, Matronen, die kochen, lieben und schimpfen. Ein Freund, der Dichter ist, aber unsinnige Arbeit tut, die seine Familie kaum ernährt. Eine Geliebte, religiöse Zeremonien, alte Kulte, Prophezeiungen – Cigarillos und Rum. Rauschende Feste und Nächte. Hitze. Musik. Sinnlichkeit. Unendlich Zeit. Kein Wasser.
„Das Hören ist der erste Sinn Santiagos … Der Hahn hat Morgenstunden hinter sich, Radios laufen, von der Straße strömen die Stimmen. Nur von meiner Terrasse ist noch kein Geräusch zu hören. Die Topfpflanzen stehen still in der Luft und Steine wärmen das Licht … Ich stehe auf, erinnere mich kurz der Sterne, mit denen ich eingeschlafen bin und höre den ersten Ausschreier sein ‚Hör-mein-Liedchen‘, sein ‚Kauf-mein-Bisschen‘ singen … und wie jeden Tag kann ich mich kaum sattsehen an diesem Zauber, der die Santiagueros so exakt beschreibt, wie sonst nur die Lust. Apotheose von Menschen und Göttern: Die Wände fast eingestürzt oder gerade so aufgezogen unverputzt, abgebröckelt, die Patina lediglich eine vorübergehende Schönheit über dem unersättlichen Staub, dem Zerfallenden und dem Schwarz, das den Schimmel frisst; Holztürplanken, morsch und verwachsen, Wellblech über dem Kopf, klappriges Habe-kaum-Gut in der Form durchgesessener Möbel und abgetretener Böden, der dreibeinige Tisch unter der nackten Glühbirne, zerbeulte Töpfe und rostende Wassertonnen, insgesamt in den Ruin getriebenes Material, fensterlos, asbestfarben – doch die Menschen treten aus ihren Häusern wie Engel.“
Kuba. Ausrottung der Stechmücken, wöchentlich, wenn das Fumigacion-Auto mit geladener Kanone die Straßen entlang schleicht, Gift in alle Winkel der Häuser bläst, kein Entkommen, für Niemanden. Das ist Prävention. Gegen die Krankheiten, welche die Mücke AEDES überträgt.
Kuba. Wenn schon die Regierung nicht für Wasser sorgt, tun es wenigstens die Götter. Changó, der Wettergott, bündelt seine Blitze und reitet über den Himmel. Wassertanks werden geöffnet, sammeln den Regen.
Kuba. Ein Land aller Hauttöne, eine Insel der Rhythmen, des Sons, der Rumba, der Conga und großen afrokubanischen Religionen, welche die Sklaven mit über den Ozean brachten. Eine Insel voll schwarzer Magie, ein Land alter Götter und körperlicher Lust.
Kuba. Ein beispielhaftes Gesundheitswesen, ein fast drogen- und gewaltfreies Land, eines der besten Bildungssysteme der Welt, die staatliche Garantie, ein Dach über dem Kopf zu haben – die guten Dinge der Revolution.
Kuba. Aber was hilft es, denken zu lernen, wenn man am Ende nicht sprechen darf? Absurd, dass kubanische Ingenieure als Taxifahrer arbeiten, Krankenschwestern illegale Nagelstudios betreiben, Lehrer sich von Citytouren für Touristen über Wasser halten; absurd, in permanenter Angst davor zu leben, wegen Belanglosigkeiten im Gefängnis zu landen.
All das weiß Raúl Castro, der seit 2008 die Führung des Landes übernommen hat. Das Land nähert sich den USA, Raúl stärkt nichtagrarische Genossenschaften, lässt mehr selbstständige Arbeit zu, mehr Handwerker, Unternehmer, Restaurants. Bauern dürfen auf immer mehr Bauernmärkten den Preis ihrer Waren selbst bestimmen, zwanzig Prozent der Wirtschaft sind inzwi-schen in privater Hand; Reisen ist leichter, und es ist weniger gefährlich, auf offener Straße seine Meinung zu sagen. Die Dinge verändern sich. Langsam. Nur weiß niemand, wohin die Reise geht.
Dennis Freischlad begibt sich erzählend und beschreibend in die Tiefen und Untiefen, an die Ränder und mittenhinein in „seine“ Stadt Santiago de Cuba. Und man merkt: Von Europa aus betrachtet haben die Kubaner all das, was der Kapitalismus verspricht, aber durch Konsum nicht einzulösen ist: Frieden, Muse und Zeit, noch mehr Zeit, mit sich und geliebten Menschen einfach zu sein. Eine Stunde, einen Tag, ein Leben. Aber er zeigt auch: Die Kubaner wollen etwas anderes – sie wollen „gut leben“ ohne eigentlich zu wissen, wie dieses gute Leben aussehen kann, soll, muss. Auch Dennis Freischlads Prognose ist keine eindeutige, kann es nicht sein: „Die Zukunft bleibt ein Vakuum. Überall lässt es sich sehen und hören: Wenn sich jemals etwas ändert in diesem so pittoresk zurückgelassenen Land, dann ungefähr jetzt oder gleich, wenn sich das Aussterben der alten Revolutionsgarde beobachten lässt und die USA ihre eigentlich so liebe Insel wieder in die Arme schließen möchten, um sich das zurückzuholen, was die Kubaner ihnen gerechterweise genommen haben. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, in den Kokosschalen lesen es die Priester, in Havanna nicken die Diplomaten zum Takt der Gesprächsrunden: Es wird etwas passieren. Die Frage ist nur: wann? Die Antwort immer nur: was?“
Dennis Freischlad, 1979 in Hessen geboren, zieht reisend durch die Welt. Die meisten Jahre lebte er in Indien und auf Sri Lanka, unterbrochen von längeren Aufenthalten im Nahen Osten, Europa und den USA. Dazwischen immer wieder Deutschland, kurze Zeit in Berlin und Köln. Dennis Freischlad arbeitete als Farmer, Koch, Hostelmanager, Bibliothekar und Übersetzer. Als Autor publiziert er überwiegend Lyrik, Reiseberichte und Essays.
Dennis Freischlad: Diesseits der Tage —Ein Sommer auf Kuba
DuMont Reiseverlag
270 Seiten
Preis: € 14,99 (D) / 16,50 (A) / 19,90 (CH)
ISBN: 978-3-7701-8287-9
Erscheint am 24.07.2017